St. Kaspar

Abenteuer Mitgefühl: Auf dem Weg mit dem Projektkurs „Soziales Lernen“


Meine Schuhe sind ziemlich dreckig. Es sind auch definitiv die falschen Schuhe. Ich bin halt ein Stadtkind und kenne Pferde eher aus Büchern. Jetzt stehe ich in einer Reithalle mitten im Sand, an meiner Hand mein kleiner Sohn (auch ein Stadtkind), den ich mitgenommen habe, damit er mal echte Pferde sieht. Mit gegenüber steht Vera, die gerade den Kuchen ausgepackt hat, den sie für die Kinder, die sie während ihrer Praktikumszeit betreut hat, gebacken hat. Nicht nur das Pferd, das sie mit Zuckerglasur auf den Kuchen gemalt hat, beeindruckt mich, sondern vor allem das strahlende Gesicht ihrer Anleiterin; die schwärmt: von Veras gutem Verhältnis zu den geistig und z. T. auch seelisch beeinträchtigten Kindern, von der Entlastung, die der Einsatz des verantwortungsvollen Mädchens bedeutet hat. Ich freue mich, bedanke mich – für die Praktikumsmöglichkeit für unsere Schülerin, für die gute Begleitung, für das Vertrauen. Ich muss weiter. Zum Kindergarten.

Die unterrichtliche und schulische Begleitung des Sozialpraktikums hat mir z. T. sehr ungewöhnliche „Arbeitsplätze“ (Reitstall, Kindergarten, Grundschule,…) und neue „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ (z. B. eine Missionarin auf Zeit, eine Psychiaterin, eine Erzieherin, ...) beschert. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern versuchen wir, angebunden an das Fach Religion, im Rahmen des Projektkurses „Soziales Lernen“ und des Sozialpraktikums das breite und spannende Arbeits- und Lernfeld „Soziales“ in Theorie und Praxis zu erschließen, experimentelle Theologie sozusagen. Ich bin zwar gut ausgebildet als Lehrerin im Fach Religion und kann über zehn Jahre praktische Arbeit im sozialpädagogischen Bereich (Hausaufgabenbetreuung, Ferienfreizeiten, Arbeit mit Kindern/Jugendlichen/Familien mit Migrationshintergrund, Referententätigkeit bei Familienbildungsseminaren, etc.) vorweisen, aber es geht nichts über Begegnung mit konkreter und aktueller Praxis:

Die Zeichnung des Ziffernblattes ist kaum zu erkennen – Zahlen, Striche, alles ist verrutscht, unvollständig. Frau Blank zeigt den Schülerinnen und Schülern weitere Zeichnungen. Auf einigen ist die Uhr besser zu erkennen, bei anderen ist das visuell-räumliche Vorstellungsvermögen des Zeichners oder der Zeichnerin schon so weit beeinträchtigt, dass die Uhr kaum mehr als solche zu identifizieren ist. Während die ersten Tests des verbalen Gedächtnisses, der kognitiven Flexibilität, der Wortflüssigkeit und der Gedächtnisleistung, die die Schülerinnen und Schüler selbst absolviert haben, noch zu einigem Gelächter über Rechenfehler und Merkschwierigkeiten führten, stimmen die Ausführungen der Oberärztin einer Gerontopsychiatrischen Ambulanz, die Jugendlichen sehr nachdenklich. Irgendwann sagt ein Junge, dass einige der frühen Anzeichen einer dementiellen Erkrankung zum Verhalten seiner Oma passen. Ob er mal mit ihr in der Ambulanz vorbeischauen soll? Ja, soll er. Kein betretenes Schweigen, sondern eine ermunternde Antwort. Freundliche Mitschüler.
Die Begegnung mit Leid und Hilflosigkeit soll uns nicht zu Trauer und Resignation führen. Die Bestürzung über die mangelnde Förderung von Kleinkindern im Elternhaus soll uns motivieren durch einen Einsatz im Kindergarten gegen gerade dieses Defizit anzugehen. Das Klagen über die „väterlose Gesellschaft“ ist ernstzunehmen – was gibt es besseres als junge Männer, die ein Praktikum in der Ganztagsbetreuung der Grundschule absolvieren und dort Vorbilder sein können, gerade wenn diese Rolle ihnen sonst nicht zufällt.

Das Fazit der Schülerinnen und Schüler am Ende nach dem ersten Durchlauf des Sozialpraktikums mit Projektkurs waren sehr positiv. Lassen wir Jonas Bülling, der den kleinen Daniel [Anm.: Name geändert] begleitet hat, zu Wort kommen:

„Wenn ich im Nachhinein auf mein Projekt zurückschaue, erachte ich es mehr denn je für sinnvoll und wichtig, sowohl für Daniel als auch für mich selbst. Ich konnte Daniel durch Wiederholungen und praktische Lernhilfen unterstützen, Schulwissen nachzuarbeiten und ihm, was sich im Laufe der Zeit als genauso wichtig herausstellte, durch positive Lernerfahrungen und Erfolgserlebnisse oft Spaß am Lernen vermitteln. Während meines Praktikums habe ich Daniel ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt, was seine Mutter aufgrund ihrer Mehrfachbelastung nicht immer tun konnte. […] Bereichernd war das Projekt auch für mich, da ich mir im Zuge des Praktikums über die Situation von behinderten Menschen in unserer Gesellschaft viele Gedanken gemacht habe. Erfahren habe ich dabei, dass es sich bei ihnen um sehr liebenswerte Menschen handelt, die keine Ausgrenzung verdienen, sondern mehr integriert werden sollten. Durch Daniel konnte ich lernen, dass Vorurteile gegenüber Menschen, die auf irgendeine Art und Weise anders sind als man selbst, Barrieren schaffen, wo Brücken gebraucht werden. Nur wer sich auf andere Menschen einlässt, kann ganz neue Seiten an ihnen entdecken. Denn entgegen meinen Erwartungen vor dem Praktikum machte mir die Arbeit mit Daniel immer wieder aufs Neue viel Freude und nicht nur Mühe, was daran lag, dass Daniel anderen Menschen und Lebewesen gegenüber sehr frei, offen, unkompliziert und freundlich gegenübertrat. Ich erlebte Daniel immer sehr emotional, häufig lächelnd, nie berechnend, nie einseitig auf Kosten anderer auf seinen Vorteil bedacht.
Schon die herzliche Begrüßung bei unseren Treffen, wenn Daniel in großem Tempo zur Tür rannte um mich zu umarmen, gab mir das Gefühl, dass er sich wirklich auf mich und unsere Zusammenarbeit freute. Gerade diese vielen kleinen Zeichen der Wertschätzung waren ein wunderbarer Lohn für meine Arbeit, die mich immer wieder gerne zu meiner Praktikumsstelle gehen ließen und weswegen ich mich auch nach meinem Praktikum wieder mit Daniel getroffen habe.
Daneben habe ich aber auch noch einige andere, für mich wichtige Erfahrungen gemacht. Ich wurde immer wieder gefordert, Aufgaben und Anforderungen für Daniel begreiflich und anschaulich zu machen, damit er seinen Zugang dazu finden konnte […]. Immer wieder kamen wir in Lernsituationen, die nicht wie geplant abliefen und die Kreativität und Spontanität erforderten. […] Eine weitere wichtige Erfahrung unserer gemeinsamen Zusammenarbeit ist auch die, dass anspruchsvollere Ziele zumeist nicht in einem großen Schritt, sondern in vielen kleinen Teilschritten erreicht werden können. Auch müssen Ziele immer wieder überprüft und angepasst werden. Aus diesem Grund ist das vorläufige Nichterreichen eines großen Ziels nicht mit Schwäche gleichzusetzen, und in diesem Wissen kann ich mein Praktikum im Nachhinein als erfolgreich beurteilen. Zwar hat Daniel auch nach unseren Übungen und Wiederholungen nicht die Mathe- und Deutschkenntnisse eines Nichtbehinderten in seinem Alter, trotzdem konnte ich ihm aber dabei helfen, viele Schritte auf einem Weg zu gehen, an dessen Ende die Selbstständigkeit Daniels stehen wird. Mit Menschen, die ihn auf diesem Weg führen, kann er dieses noch ferne, aber immer nähere rückende Ziel erreichen und so freut es mich, dass ich diese Rolle auf einer Teilstrecke übernehmen durfte.“

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